Ioan Grosu, geboren 1985 in der rumänischen Stadt Mediaș im Kreis Sibiu, lebt seit 2005 mit Unterbrechungen in München, wo er an der Akademie der Bildenden Künste sein Studium absolvierte und 2011 als Meisterschüler von Günther Förg abschloss. Er gehört zur ersten Künstlergeneration der digitalen Ära, doch entspringt seine meist in Öl über längere Etappen entstehende Malerei vorwiegend analogen Quellen und Techniken. Selbst ein Schwebender zwischen den Kulturen von Ost- und Westeuropa, deren Annäherung nach dem Kollaps des Eisernen Vorhangs längst nicht abgeschlossen ist, durchwirken Übersetzungsprozesse seine Arbeit: ein Zeiten und Orte übergreifender Transfer zwischen den Medien, Bildmotiven und Stilformen, zwischen Traum- und Wachzuständen, zwischen dem Profanen und dem Sublimen, Abstraktion und Gegenständlichkeit, Realität und Fiktion. Diese Dialektik verdichtet sich in den aktuellen Figurationen des Künstlers, die an die Stelle seiner früheren, von Farbverflechtungen und -bündelungen bestimmten abstrakten Kompositionen getreten sind, in denen figürliche Elemente nur ansatzweise in Erscheinung treten. Auslöser für den thematischen Shift in seinem Werk war ein Aufenthalt in Rumänien vor vier Jahren. In einem Keller in Cluj, wo er nach Überflutung seines Münchner Studios vorübergehend ein Atelier bezog, stieß Grosu auf einen Stapel alter Zeitschriften: ungarische Illustrierte aus den 1960er und -70er Jahren, deren Texte und Abbildungen ihm weitgehend unverständlich blieben wie ein Mysterium, das sich der ultimativen Entschlüsselung entzieht.
In seiner dekonstruktiven Sichtung des vorgefundenen Materials zerlegte Grosu die Zeitschriften im Cut-up-Verfahren und setzte die Bildbruchstücke in neuen Konstellationen zu Collagen zusammen – Vorlagen für Malerei und Zeichnungen, in denen das Rätselhafte der Ausgangsbilder im Remix der medialen Übertragung noch potenziert wird. Die angeeigneten Motive, eine gezielte Inkorporation von ausgewählten Bildelementen „ohne sie semantisch zu vereinnahmen“(1), nehmen auf der Leinwand des Künstlers ein Eigenleben an: Frauenfiguren, rauchend, liegend, lachend, schlafend, in sich versunken sinnierend, aus der Zeit gefallen, agieren an „Orten außerhalb aller Orte“(2) vor nächtlich-dunklem, oder glutrotem Grund, in Interieurs oder (Stadt-) Landschaften, die Gesichter verstellt, verwischt oder von ganzen Motivkonglomeraten überlagert, die sich vor die Antlitze schieben wie Vielfach-Belichtungen, die in einem post-kubistischen Zerrspiegel zerspringen. Die Motive wiederholen sich in Abwandlungen und Variationen. Anhand ausgewählter Sujets spielt Grosu mögliche ästhetische Ansätze und Annäherungen durch. In diesem Sinne katapultieren die konkreten Bildmotive der Zeitschriften seine Kompositionen wieder hinein ins Abstrakte. Dies zeigt sich insbesondere in den Portraits des Künstlers, die teils bis zur Unkenntlichkeit übermalt sind oder sich ins Diffuse auflösen. Ihres ursprünglichen Referenzrahmens enthoben, bleiben die Darstellungen offene Chiffren, selbst wenn gelegentlich auch die vielfach reproduzierten Gesichter von Weltstars wie Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot darin erkennbar sind.
Angesichts von Grosus Werkkomplex auf Grundlage der Zeitschriften-Fundstücke blitzen immer wieder auch Nachbilder der jüngeren Kunstgeschichte vor dem Auge der Betrachterin, des Betrachters auf: Bei den Marilyn-Reprisen schwingen Andy Warhols serielle Vervielfältigungen der Hollywood-Ikone zwangsläufig mit. Eine ruhende Frauengestalt, von abgewandtem Mann flankiert, der ihr auf der Bettkante sitzend den Rücken zukehrt, evoziert die Liebesendzeitstimmung in Edward Hoppers „Excursion into Philosophy“ (1959). Eine Gruppe von Krankenschwestern, die – je nach gewähltem Ausschnitt gelegentlich kopflos – eine Treppe hinabgehen, lassen an Marcel Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ (1912) denken. Die Augenpartie eines weiblichen Antlitzes, das Grosu zugleich durch eine Farbschicht verdeckt und hervorgehoben hat, beschwört die stilisierten Mandelaugen von Modiglianis langgestreckten Frauengestalten herauf. Picabias proto-postmoderne Importe weiblicher (Akt-)Figuren aus Zeitschriften in die Malerei Anfang der 1940er Jahre werden durch Grosus’ Kompositionen mehrfach wachgerufen, teils atmosphärisch, teils durch spezifische Posen oder Details. So tauchen die Fensterstreben, vor denen eine Rückenfigur in Picabias „Femme à la fenêtre“ (1942) in den Nachthimmel blickt, bei Grosu hinter einer telefonierenden Frauengestalt als diskretes kunsthistorisches Zitat auf, das sowohl auf das ästhetische Procedere der medialen Übertragung und Umdeutung als auch auf ein konkretes Werk Picabias verweist. In seinem sublimierenden dekonstruktiven Bildersturm setzt Grosu nicht zuletzt die potenzielle Ikonenhaftigkeit seiner populärkulturellen Quellen frei: Die Heiligenbildnisse in Kirchen seiner Kindheit, die verschiedenste Konfessionen beherbergten, wirken in den angeeigneten medialen Bildfragmenten ebenfalls implizit nach.
In seinen disruptiven Rekodierungen treffen die (Ge-)Schichten der Vergangenheit auf die kaleidoskopische Aktualität unserer zersplitterten Bilderwelt, in der sich „Gegenwart und Zukunft […] zum allgegenwärtigen Augenblick“ verschränken, „so wie sich die Ausgedehntheit der Erde im Übermaß an Geschwindigkeit und ständiger Beschleunigung unserer Fortbewegung und Telekommunikation zusammenzieht“.(3) Paul Virilios Diagnose einer umfassenden „Augenblicklichkeit“, die das 21. Jahrhundert im Sinne einer „interaktiven, kybernetischen Telekommunikation“ erfasst habe(4) findet seine Entsprechung in der Ästhetik der Collage, die die Zeiten und Orte, die profanen Sphären der Populärkultur und die sublimen der Hochkunst vereint. „Die Collage“, so Vanessa Joan Müller, „fokussiert das Widersprüchliche, die produktive Vereinigung des Gegensätzlichen, die bildnerische Dialektik. Sie blendet Realitätsfragmente in den Schein des Wirklichen und verwandelt Bilder in Bedeutung verschiebende Bildfragmente.“(5) Genau das macht sie auch zum quintessenziellen Ausdruck und Medium unser Ära, in der die Welt zwischen Verflüchtigung und Krisenschwere taumelt. Grosu, der „im Zwischenraum der Realitäten unterwegs“(6) ist, verwendet in einer gegenseitigen Durchdringung seiner künstlerischen Ausdrucksmittel Collagen mittlerweile nicht nur als unmittelbare Ausgangspunkte für Malerei und Papierarbeiten, sondern übersetzt sie in Fotografie, von dort in Zeichnungen oder auch von der Malerei zurück auf das Papier.
Text von Belinda Grace Gardner
Anmerkungen:
(1)Fritz Emslander, Die Welt auf dem Schneidetisch. Oder: Es ist nicht der Leim, der eine Collage macht, in: ders.: Markus Heinzelmann (Hrsg.), Schnitte im Raum. Skulpturale Collagen, Ausst.-Kat. (Museum Morsbroich, Leverkusen: 2011), Bielefeld 2011, S. 43.
(2)Michel Foucault, Andere Räume [Typoskript eines Vortrags am Cercle d’Etudes Architecturales, Paris, 14. März 1967, dt. in: Idee Prozeß Ergebnis, Berlin 1987], in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. v. Karlheinz Barck u. a., Leipzig 1990, S. 39.
(3)Paul Virilio, Der Futurismus des Augenblicks [Orig.: Le Futurisme de l’instant. Stop-Eject, Paris 2009, dt. Übers.: Paul Maercker], Wien 2010, S. 56.
(4)Vgl. ebd., S. 55.
(5)Vanessa Joan Müller, Verfremdungseffekte, in: Emslander; Heinzelmann 2011, S. 49.
(6)Ioan Grosu im Telefongespräch mit der Autorin, 23. März 2017.
Vita
1985
Ioan Grosu wird in Medias (Rumänien) geboren
(lebt und arbeitet in München)
2005—2011
Akademie der Bildenden Künste, München (Günther Förg)
2011
Meisterschüler (Günther Förg)
Selected Group Shows
2020
Forget (Part II: Don’t Forget Your Mask) – Jahn und Jahn, München
Selected Shows
2019
Ioan Grosu. Ich warte – Laden für Nichts, Leipzig
2018
Ioan Grosu. What's left – Lateral ArtSpace, Cluj
40+10+1 – Jahn und Jahn, München
The Human Condition – Schönewald Fine Arts, Düsseldorf
2017
Ioan Grosu. Galopp – Jahn und Jahn, München (Kat.)
Artificial Idiocracy – Initiative Raumschiff, Linz
...Acheronta Movebo – RØM, Kopenhagen
2016
Aus der Mitte entspringt ein Kreis – Kunstarkaden, München
Künstler der Galerie. Bildnis und Figur – Galerie Fred Jahn, München
2015
Stickyfingers. Collagen – Galerie Jahn, München
Fünf Tische (mit Benedikt Gahl, Hans-Jörg Dobliar, Andreas Höhne, Nejat Baydar) – Temporäres Archiv der Gegenwart / Alt Giesinger, München
Gastspiel – Schönewald Fine Arts, Düsseldorf
2014
O.N.P.A.P.E.R. – Galerie Fred Jahn, München
Ioan Grosu. Living yesterday, tomorrow – Galerie Jahn, München
Taylor Wessing, München
Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen III – Galerie Jahn, München
2013
Imaginäre Lösungen – in diesem Sinne III – Munikat, München
Kunst von der Erde (mit Lutz Braun) – Kunstraum, München
German Kleinformat – Lateral Art Space, Cluj (Rumänien)
MMMHCI – Produzentengalerie, Hamburg
2012
Edition Karbit – Atelier Hefele / Hottner, München
2 Vögel – Phoenix-BB, Berlin
Ioan Grosu. Greetings from the unknown – Galerie Jahn, München
MMMHCI – Gruppenausstellung, Galerie Jahn, München
Einzelausstellung (ohne Titel) – Raum 58, München
Time Capsule. Eine Frau, ein Baum, eine Kuh – Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt
2011
Panorama in – Arquà Petrarca via Aganoor 75, Padova
Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen – Galerie Jahn, München
Diplomausstellung – Akademie der Bildenden Künste, München
2010
Impressions – Bourouina Gallery, Berlin
Crotla presents Vol. 2 – Schleißheimerstr. 22, München
Come here tomorrow – Bourouina Gallery, Berlin
Kokolores – Neue Kunst aus München und Berlin – Puerto Giesing, München
Ioan Grosu. In the name of – Galerie Jahn, München
2009—2007
International Drawings – Galerie Biedermann, München
Suspended in Process – art-in-flux, London
der katholische Faktor – Städtische Galerie, Regensburg
Das Winkelhuber-Stipendium – Weltraum, München
Groupshow – Galerie Jahn, München
Transreport – Hermannstadt (Rumänien)
out of the dark…into the light – Galerie Jahn, München
Transreport – Rathausgalerie, München
Opening – Grassereins, München
bei Skylla und Charybdis – Weltraum, München
tavola calda – Kunstverein, Heilbronn