Ideale Welten lassen sich vorwärts und rückwärts denken. Es gibt die nach vorne gerichteten Utopien, und es gibt so etwas wie Retrotopien, also Verklärungen der Vergangenheit als Hort einer „guten alten Zeit“. Die Bilder von Soyon Jung führen uns in beide Richtungen. Es sind Zukunftsahnungen – erzählt in der Vergangenheitsform ruinierter Landschaften. Seit der Romantik verbinden wir mit Bildern von Ruinen eine retrospektive Sehnsucht. Künstliche Ruinen ließen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Bauherren von einem vorindustriellen Mittelalter schwärmen. Im Gegensatz zu makellosen Nachbauten sollte ihre dezidierte Ruinenhaftigkeit den Aspekt der Vergangenheit spürbar werden lassen und sie damit in einer Geschichte verwurzeln, die es in dieser malerischen Variante nie gegeben hatte. Jungs Radierungen sperren sich gegen eine derart romantisierende Exegese. Denn bei ihr sind es nicht nur Gebäude, die überwuchern und sich allmählich aufzulösen scheinen; jeder mit Linien herbeigeführte Realismus bricht in ihren Bildern früher oder später auf. Den vermeintlich romantischen Idealismus konterkariert eine zuweilen aggressive Eigendynamik der Strichführung, die eher die Abstraktionsbewegung des 20. Jahrhunderts aufruft und sich von jedem Geschichtsbezug und jedem Inhalt freizuspielen sucht. Die Bilder wehren sich so gegen eine Lesart, die sie vorschnell auf Motiv oder Konzept festschreiben will. Am Ende triumphiert die Eigenständigkeit der Linie in ihren Bildern – alles andere sind nur Möglichkeiten des Gewesen-Seins.
Soyon Jung (*1982 in Gwangju, Südkorea) kombiniert klassische Radierungen mit digitalen Drucktechniken, Video und 3D-Fotografien. Sie studierte in Seoul und Hamburg, wo sie heute lebt und arbeitet.
Vita
1982
Soyon Jung wird in Gwangju, Südkorea, geboren (Sie lebt in Hamburg)
2002—2006
Kunststudium an der Ewha Womans University in Seoul
2007—2014
Studium an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg bei Haegue Yang und Jutta Koether
2013
Leistungsstipendium für ausländische Studierende
2016
Marktplatz-Druckgrafik-Preis
2020
Verleihung des Poolhaus-Preises für Junge Kunst
Stipendium für bildende Künstler/innen der Stiftung Kunstfonds und Neustart Kultur
2021
Hamburger Zukunftsstipendien für Bildende Kunst der Behörde für Kultur und Medien
Reisestipendium für bildende Künstler/innen in Dresden 2021
Arbeitsstipendium für bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg
Selected Solo Shows
2021
Aushungern und demoralisieren – Jahn und Jahn, München
Selected Group Shows
2024
Politics of Love – Kunsthaus Hamburg
2023
The Conservative Joy – Briefing Room, Brüssel
2022
The Hallucinated Countryside – Briefing Room, Brüssel
Arbeitsstipendium für Bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg 2020/2021 – Deichtorhallen, Sammlung Falckenberg, Hamburg
(doch noch) einige Gegenwartstrümmer, Teil 1: Death Hoax II – Kunstverein Langenhagen, Langenhagen
Nie wieder Gegenwart (mit Steffen Zillig) – Kunstverein Langenhagen, Langenhagen
Transitions – Frappant Galerie, Hamburg
2021
Nominees – Kunsthaus Hamburg, Hamburg
2020
Die angstvolle Reise III, Lichthof, Out for Art – Lübeck
Die Welt ist Ganz – Galerie Melike Bilir, Hamburg
Futur II – Poolhaus, Hamburg
2019
Computer und Papier – Galerie Jahn und Jahn, München
Framed Bodies // Fluid Imaginations – Alte Holstenbrauerei, Neumünster
Public Relations – Palais für aktuelle Kunst, Glückstadt
Begegnung – MARKK Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt, Hamburg
Death Hoax – Westwerk, Hamburg
2018
InterCity # 2 Toxischer Sommer – Ausstellung bei Magazin Release, Atelier Alex, Berlin
2016
Marktplatz-Druckgrafik-Preis Ausstellung – Leipziger Buchmesse, Leipzig
2015
Multitude – Galerie Melike Bilir, Hamburg
Local Affinities – FRISE-Künstlerhaus, Hamburg
Don‘t Touch / Touch Screen – KunstWerke, Berlin
2013
To beginn is to be half done – Davin Art Space, Busan, Südkorea
2012
Past pro toto – Galerie der HFBK Hamburg, Hamburg
2011
Machine-RAUM Festival für Video Art und Digital Culture, Vejle, Denmark
2010
Hamburger Hefte – Galerie der Kunsthochschule Kassel
2009
Strangeloop – Galerie Genscher, Hamburg