Die druckgrafische Serie „Die Herrschaft des Konkreten“ der Künstlerin Soyon Jung besteht aus sechs Motiven, die sich augenscheinlich auf die Architekturmotive der europäischen Banknoten beziehen. In dystopischen Szenerien sind die Brücken der Geldscheinrückseiten auf Jungs Heliogravüren dem Verfall preisgegeben.
Die Euro-Banknoten sind laut Europäischer Zentralbank „ein greifbares und sichtbares Symbol der europäischen Einheit“. Die fiktiven Brückenmotive auf der Rückseite der aktuellen Geldscheine stehen für die Verständigung zwischen den Menschen in Europa sowie zwischen Europa und der übrigen Welt. Die Fenster und Tore auf den Vorderseiten symbolisieren den europäischen Geist der Offenheit und Kooperation. Keines der abgebildeten Architektursujets existiert real; es handelt sich vielmehr um abstrahierte Motive von Baustilen aus den verschiedenen Epochen europäischer Geschichte. Doch ihre Zeit läuft ab, denn am 29. November 2023 – vor genau einem Jahr – hat der EZB-Rat die Neugestaltung der Geldscheine beschlossen. Basierend auf einer Studie zu den Präferenzen der Menschen im Euro-Raum wurden die Themen „Europäische Kultur“ sowie „Flüsse und Vögel“ bestimmt. Voraussichtlich 2026 wird der EZB-Rat über die künftigen Designs entscheiden. Eines der Ziele der Bargeldstrategie des Eurosystems besteht darin „ansprechende Euro-Banknoten zu entwickeln, mit denen sich die Menschen in Europa identifizieren können.“
Sind die zentralen Gedanken europäischer Zusammenarbeit der heutigen Banknoten etwa veraltet und entsprechen nicht mehr dem neuesten Stand identitätsstiftender Geldpolitik? Braucht es konkrete, die Realität abbildende Sujets, um die Identifikation der europäischen Individuen mit der Gemeinschaft sicherzustellen? Verliert sich gar im Laufe subjektorientierter Banknotenentwicklungsprozesse die Fähigkeit zum abstrakten Denken? Marode Brücken verbinden als sichtbares Zeichen der Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur die Menschen im Norden wie im Süden Europas seit der Katastrophe von Genua 2018 (Polcevera-Viadukt) bis zum jüngsten Einsturz der Carolabrücke in Dresden am 11. September 2024. Bröckelt der Zusammenhalt unter Europas Ländern und Bürgern in Zeiten der Diskussion über innereuropäische Grenzen? All diese Fragen lassen sich anhand der kaputten Brücken Soyon Jungs verhandeln. Ähnlich antiker Überreste manifestiert sich im ruinösen Zustand der Brückentrümmer die Dekadenz der Zeit, die Kraft der Imagination und die Schönheit des Rudimentären. In Form fiktiver Projektionen konservieren sich in diesen Papierarbeiten bruchstückhaft die Ideale eines gemeinsamen europäischen Werte- und Gedankensystems. Anka Ziefer
Am Freitag, den 29. November 2024 – es ist der Jahrestag des EZB-Ratsbeschlusses – eröffnet um 19 Uhr die internationale Gruppenausstellung „Politics of Love“ im Kunsthaus Hamburg, kuratiert von Dr. Belinda Gardner und Anna Nowak. Alle sechs Blätter der Serie „Die Herrschaft des Konkreten“ von Soyon Jung sind Teil der Ausstellung.
Zitate im Text nach: https://www.ecb.europa.eu/euro/banknotes/future_banknotes/html/ecb.faq_banknotes_redesign.de.html (Stand: 18. November 2024)
Soyon Jung wurde 1982 im südkoreanischen Gwangju geboren. Nach einem Kunststudium an der Ewha Woman’s University in Seoul ging sie nach Deutschland und studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HfbK) bei Haegue Yang und Jutta Koether. 2016 wurde ihr der Marktplatz-Druckgrafik-Preis, 2020 der Poolhaus-Preis für Junge Kunst und das Stipendium für bildende Künstler*innen der Stiftung Kunstfonds verliehen. 2021 erhielt sie das Hamburger Zukunftsstipendium für Bildende Kunst sowie das Reise- und Arbeitsstipendium für bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg. In ihren Zeichnungen und Videoarbeiten werden fantastische Ruinenlandschaften zu utopischen Gesellschaftsbildern. Dabei projizieren sie gegenwärtige Gesellschaftskonflikte, Repräsentationsgebäude von Großkonzernen oder auch jüngst Banknoten in eine Zukunft, in der diese ihre Macht längst verloren haben und dem Verfall anheimgegeben sind. In ihren Arbeiten kombiniert sie klassische Radierungen mit digitalen Drucktechniken, Video und 3D-Fotografien. Die Künstlerin lebt in Hamburg.
SoyonJung_GM3Ijls.pdf (1,0 MB)
SoyonJungENG.pdf (1,0 MB)