So wie die Zeit Ausdruck von Wahrnehmung und Veränderung ist, bleibt auch der künstlerische Kosmos von Navid Nuur in konstanter Bewegung und formiert sich ständig neu aus Zeichnungen, Bildern, Skulpturen und Installationen. Nuur selbst bezeichnet seine Arbeiten als „Interimodule“: Modul in Referenz an ihre Konzeptualität sowie das Wechselverhältnis der verschiedenen Elemente und Interim als Indikator für ein Dazwischensein, einen temporären Zustand des Übergangs. Fast schon wie ein Alchemist ergründet Nuur das Wesen von Kunst und der Welt, indem er – ausgehend von Materie als Substanz aller Dinge – ein großes Augenmerk auf ihre Materialität legt und unterschiedliche Erscheinungsformen zum Vorschein bringt, nicht ohne dabei über den komplexen Begriff der Zeit zu reflektieren.
Nach der Renovierung und kurzzeitigen Wiederöffnung des Stedelijk Museum, Amsterdam, schrieb Nuur bereits 2010 den für den Ausstellungstitel gewählten Satz “What is lost in time will be found by time” mit einem Ziegelstück des Gebäudes auf eine Wand. Gleichermaßen griff er dieses Statement in einer dreiteiligen Zeichnung auf, die in der Ausstellung zu sehen ist: in Form einer zarten Schrift auf weißem Grund und als weitere Abdrucke, die durch die darüberliegenden Schraffuren erkennbar werden und zugleich verschwinden. Die Arbeit oszilliert zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; der im Titel implizierte Such- und Findungsprozess lässt sich auf die Zeichnungen übertragen. Sie stellen außerdem ein Zeitdokument dar, verweisen sowohl formal wie zeitlich aufeinander und setzen sich gleichzeitig mit dem Medium selbst auseinander. Einerseits handelt es sich um Zeichnungen; andererseits wird der klassische Zeichnungsprozess überwunden und mittels Kreide und Graphit eine in der Vergangenheit gesetzte Spur, ein Text, freigelegt.
Rekontextualisierungen sowie Prozesse des Neu- und Wiederentdeckens sind charakteristisch für Nuurs Vorgehensweise. In seinen "marbled paintings" imitiert der Künstler die Marmoriertechnik mit Gesso, einem aus Gips und Kreide bestehenden Bindemittel. Dies verwendet Nuur jedoch nicht, wie üblich, als Bildgrundierung, sondern als Endprodukt. Nuur stellt die Produktionsmittel der Malerei in seinen prozessbasierten Arbeiten immer wieder zur Disposition. Anders als vermutet, ist das marmorierte Muster mit seinen feinen weißen Linien nicht durch Pinsel oder Stift, sondern durch einen Vorgang des Auftragens und Abkratzens entstanden. Diese Werke wie auch die kolorierten "marbled paintings", in denen Nuur mit fluoreszierenden Farben arbeitet, erzeugen ihre ganz eigene Stimmung. Die Arabesken scheinen ein Eigenleben zu entwickeln und sich in einem konstanten Bewegungsfluss zu befinden, ähnlich wie die mit blauem Gas versehene "broken ellipse" eine Einheit suggeriert. Nuurs Werke regen zu einem neuen Sehen an. Phänomene der Wahrnehmung sind ein zentrales Anliegen des Künstlers.
Nuurs künstlerischer Ansatz ist intuitiv; häufig entstehen seine Werke frei und autonom. Dabei legt er seinen Fokus auf unterschiedliche Parameter der Kunst und experimentiert mit Elementen wie Farbe, Licht und Hitze. Seine Keramikskulpturen, die ihm einen offeneren Umgang mit der Form ermöglichen als Bilder, begreift er zunächst als Ansammlung von Mineralien, dessen Gestalt durch verschiedene Faktoren wie den Brennvorgang selbst beeinflusst wird. Nuur schafft neue bedeutungsgeladene Inhalte, die über die reine Funktion eines Gefäßes hinausgehen. Eine besondere Magie entfalten auch uralte Gesteine, die der Künstler mittels Magnet und Eisenstaub im Hier und Jetzt verortet.
Navid Nuur (*1976 in Teheran, lebt und arbeitet in Den Haag) wurde 2011 in Amsterdam mit dem Royal Award for Painting ausgezeichnet und erhielt 2013 gemeinsam mit Adrian Ghenie den Discovery Prize bei der Art Basel Hongkong. Aktuell zeigt das Marta Herford die Soloausstellung "Hocus Focus". Ab April folgt eine Einzelausstellung im Kunstmuseum Den Haag. Werke des Künstlers befinden sich in bedeutenden Sammlungen, darunter im Stedelijk Museum, Amsterdam, Musée National d'Art Moderne/Centre Georges Pompidou, Paris, Neuen Berliner Kunstverein, Berlin, und in der Kunsthalle Zürich.