… In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz eine ganze Stadt einnahm und die Karte des Reichs eine ganze Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, dem Studium der Kartographie minder ergeben, hielten diese ausgedehnte Karte für unnütz und überließen sie, nicht ohne Ruchlosigkeit, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine andere Reliquie der Geographischen Disziplinen.
—Suarez Miranda,Viajes devarones prudentes, Libro IV,Cap. XLV, Lerida, 1658
Radio City ist keine klassische Doppelausstellung, sondern vielmehr eine Kollaboration, in der Martin Groß und Julius Heinemann ihr gemeinsames Interesse an der Wahrnehmung von Maßstäben erkunden. Obwohl es erkennbare Unterschiede in den Ansätzen, der Verwendung von Medien und bei formalen Lösungen in der künstlerischen Praxis gibt, haben beide Künstler seit einiger Zeit mit den Möglichkeiten und Grenzen des Bildraumes, insbesondere mit dessen Beziehung zum architektonischen Raum, experimentiert.
Groß’ Schwarzweißdrucke – irgendwo zwischen der Kommunikation von Zeichen und dem Solipsismus in der Abstraktion verortet – dienen als Basis für größere tapezierte Wandinstallationen. Seine Kompositionen evozieren die schemenhafte Präsenz von Bildern, die durch den Prozess der Überlagerung von Figuren und Motiven unlesbar werden, und erzeugen strukturierte, quasi-abstrakte Oberflächen. Wenn die Drucke vergrößert auf Wänden installiert sind, nehmen sie eine räumliche Qualität an, die direkt auf die Architektur des Ausstellungsraumes einwirkt und die Weise, welcher der Betrachter sich zum Raum verhält und in Beziehung setzt, verändert.
Für Radio City hat Groß eine ortsspezifische Wallpaper-Installation geschaffen, die mehrere Wände einer Seite des unteren Galerieraumes einnehmen. Kräftige horizontale Linien, die sich vom Boden bis zur Decke erstrecken, überziehen die gesamte Länge des Raumes und verdecken oder enthüllen dabei Erinnerungsbilder von modernistischen Gebäuden, die in einem latenten Zustand im Hintergrund zu liegen scheinen. Im selben Raum erzeugen Heinemanns minuziöse Postkartenübermalungen, in denen die Bilder von Städten oder Denkmälern fast völlig von Schichten weißer Farbe verschleiert werden, eine Art Zoom-Out-Effekt, wenn sie in Beziehung zu Groß’ Installation gestellt werden. Die kontrastierenden Maßstäbe der Wallpaper-Installation und der Postkarten und die Tatsache, dass beide ähnliche Bilder andeuten – Teilstücke von Gebäuden im ersteren, und das „Häusermeer“ im zweiten – erzeugen eine Art „Vertigo-Effekt“: der berühmte Dolly-Zoom von Hitchcock, in welchem die Kamera vom fokussierten Objekt weggezogen wird, während sie es gleichzeitig heranzoomt.
Im vorderen Galerieraum präsentiert Heinemann eine Installation, in der Begriffe wie Transparenz, Tiefenschärfe und Überlagerung thematisiert werden. Dies passiert durch die Platzierung von drei Malereien auf durchsichtigen Stoffen, die eine temporäre und wandelbare Architektur innerhalb des Ausstellungsraumes erzeugen. Der variable Charakter der Installation wird dadurch betont, dass die Stoffe parallel zu einem der Fenster der Galerie ausgerichtet sind – dessen Form sie aufgreifen – wodurch das natürlichen Licht auf sie trifft und somit ständig verändert.
Malerei wird Raum und während wir uns hindurchbewegen, können wir sie auf vielfältige Weise begreifen; denn unserer Blickwinkel verändert sich ständig mit unserer Position im Raum. Aber sie wird ebenso zeitlich begreifbar, in einer Abfolge von flüchtigen Momenten, die nicht vollständig eingefangen oder begriffen werden können. Auf den Stoffschirmen bringt Heinemann zarte, sparsame Farbmarkierungen an, die kompositorische Elemente bilden, welche immerzu neu kombiniert werden können, während unser Blick durch die Galerie schweift. Die Verwendung von Farbe spiegelt sich in einer Serie von kleinen Zeichnungen mit industriellem Filzstift von Groß wieder, die im selben Raum präsentiert werden. Eng nebeneinander gezogenen und überlagernde Linien verleihen ihnen Gewicht und Dichte. Die Zeichnungen kontrastieren nicht nur im Maßstab zur leichten Stoffinstallation, sondern scheinen zudem eine Menge an Energie auf knappem Raum zu konzentrieren, welche in Heinemanns Installation sorgfältig verstreut wird. So sehr die Werke beider Künstler in Format und Stil divergieren, ergänzen sie sich andererseits, da sie fragmentarische Versionen des Raumes entwerfen, die zwischen der traditionellen Zweidimensionalität von Zeichnung und Malerei und dem wirklichen dreidimensionalen Raum hin- und herschwingen.
In Radio City inszenieren Groß und Heinemann ein „Spiel“ mit dem Maßstab, das den wechselnden Charakter unserer Wahrnehmung hervorhebt. Durch die kontinuierliche Bewegung des ‚Herausfahrens’ und ‚Hineinzoomens’ wird der Betrachter für die Beziehung seines Körpers zu den Werken sensibilisiert, da er fortwährend näher, weiter weg oder durch die Arbeiten treten muss. Der von den Künstlern beschriebene Bildraum wird so weit ausgedehnt, dass er von den Mikro-Stadtansichten auf den Postkarten Heinemanns, zu den fragmentierten Architekturen von Groß’ Wallpapers und Zeichnungen, hin zur wirklichen Stadt jenseits des Fensters, die in Heinemanns Stoffinstallation mit einbezogen wird, alles umschließt, um zuletzt mit ihr, wie in Borges’ Erzählung, 1:1 übereinzustimmen.
von Kiki Mazzucchelli