Die Fährte, auf die uns das Einladungskartenmotiv zur aktuellen Soloschau von Lutz Braun bei Jahn und Jahn mit dem auf Anhieb eher wenig griffigen Titel „Im Licht der gehemmten und geleugneten Möglichkeiten“ bringt, dürfte sich spätestens in der Ausstellung als ‚falsche’ herausstellen. Das schmälert nicht die Suggestivität des Kartenmotivs – eher im Gegenteil. Dieses Motiv korrespondiert mit einem kürzlich, anlässlich der Ausstellung fertiggestellten Gemälde Brauns namens „Wolfsburg“. Im Original ein veritabel großes Quer- oder Landschaftsformat, stellt es eine Art Bilderrätsel dar, das sich formal und inhaltlich einmal der Tradition des Allegorischen und speziell der Emblematik zuschlagen ließe; zweitens handelt es sich dabei nach Aussage des Künstlers um einen Versuch in Sachen ‚Politkunst’. Der Aspekt des ‚Politischen’ hätte, so Braun, die Ausstellung sogar dominieren sollen, wäre beinahe zu ihrer Agenda geworden.
Rätsel, Auflösung und der Zweck der ganzen Übung in diesem Bild scheinen in einer prekären Beziehung zueinander zu stehen. Da bildet eine stilisierte, doch eindeutig zu identifizierende malerische Nachempfindung der 1938 erbauten und seither ikonisch gewordenen Wolfsburger Volkswagenwerke den Kopf eines monumentalen, sich von rechts her ins Bild kauernden Wolfs. Er hat den naheliegenderweise schweren, da im Original ja backsteinern verblendeten Beton-Kopf auf eine pelzige Pfote gestützt und scheint eine gleichzeitig schützende oder besitzergreifende Geste anzudeuten. Dazu passt das blau starrende Kullerauge des Wolfs: sinnigerweise jenes bekannte Firmensignet, das justament in den letzten Monaten dringend re-designt werden musste und aktuell gerade in Umlauf gebracht wird – Stichwort: Vertrauen zurückgewinnen, Grafik-Schnickschnack eindampfen. Die andere, linke Pfote liegt derweil parallel zu dem, was in der realen Wolfsburger Topografie der von Gleisen, Zäunen und schlechter Kunst gesäumte Mittellandkanal wäre.
Die Pfote liegt so schlaff da, dass sich die darin ausgedrückte Müdigkeit regelrecht auf die Malerei überträgt, die, wo es Richtung Ellenbogen geht, förmlich zum Erliegen kommt und die grundierte Leinwand hervortreten lässt. Brauns Komposition isoliert das zum Raubtier mutierte Autowerk mit seinen charakteristischen und auch im Bild heftig rauchenden Schornsteinen von seiner Umgebung und rückt es in die Ferne. Wir können den VW-Wolf-Mutanten somit aus sicherer Distanz als Bild studieren – und brauchen es nicht als in Wirklichkeit minutenlang sich hinziehendes Ärgernis aus Klinker, Zement und kapitalistischer Hybris über uns ergehen lassen, wie es die Bahnreisenden auf der Stecke zwischen Berlin und Hannover regelmäßig tun müssen, ob sie wollen oder nicht.
Bei dem Ausstellungstitel – darauf hat Braun explizit hingewiesen – handelt es sich um ein Zitat bzw. eher einen Schnipsel aus Herbert Marcuses 1967 erstmals auf Deutsch erschienenen Klassiker „Der eindimensionale Mensch“. Marcuse, ein Vertreter der Kritischen Theorie, das sei am Rande festgestellt, läuft derzeit nicht Gefahr, besonders angesagt zu sein, zumal, wer auf der Suche nach intellektuellem Zierrat für ein künstlerisches Projekt ist. Gleichwohl ist es nie unheikel, wenn sich Kunst, um mehr Rückenwind zu bekommen, ein philosophisches Segel setzt.
Dennoch lohnt es sich nachzuschauen, wo genau dieser Schnipsel herkommt. Der Passus aus der Vorrede zu „Der eindimensionale Mensch“ liest sich folgendermaßen: „Um die Möglichkeiten einer optimalen Entwicklung anzugeben und zu bestimmen, muss die kritische Theorie von der tatsächlichen Organisation und Anwendung der gesellschaftlichen Ressourcen abstrahieren sowie von den Ergebnissen dieser Organisation und Anwendung. Eine solche Abstraktion, die sich weigert, das gegebene Universum der Tatsachen als den endgültigen Zusammenhang hinzunehmen, in dem etwas zwingende Kraft erhält, eine solche ‚transzendierende’ Analyse der Tatsachen im Licht ihrer gehemmten und geleugneten Möglichkeiten gehört wesentlich zur Struktur von Gesellschaftstheorie. Sie ist aller Metaphysik entgegengesetzt aufgrund des streng geschichtlichen Charakters der Transzendenz. Die ‚Möglichkeiten’ müssen sich innerhalb der Reichweite der jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare Ziele der Praxis sein. Dementsprechend muss die Abstraktion von den bestehenden Institutionen eine tatsächliche Tendenz ausdrücken – das heißt, ihre Veränderung muss das reale Bedürfnis der vorhandenen Bevölkerung sein.“
In diesem Sinne philosophisch gerüstet, kann Lutz Brauns Ausstellung zum Werkzeug, ein Bild wie „Wolfsburg“, aber auch ein in seiner kompositorisch/thematischen Schlichtheit völlig anders gelagertes, wie „Oficina de migracion Buenos Aires 2009“ – das eine ihre Jungen säugende und teilnahmslos aus der Bildbühne auf die da hinein schauenden Betrachter_innen blickende Katze zeigt – Kunst sein und zugleich wenigstens für diejenigen zu Hämmern werden, denen diese Betrachtung „reales Bedürfnis“ und deshalb mit Blick auf die Konsequenzen nicht zu anstrengend oder enttäuschend ist. Schließlich gibt es an jeder Ecke vieles andere zu sehen, was vielleicht auch viel hergeben könnte. Die Zeit wird aber aus ganz anderen Gründen knapp.
Hans-Jürgen Hafner (Auszug aus Ausstellungstext)