Opening: Donnerstag, 24. Oktober 2024, 18–21 Uhr
Die Ausstellung Face the Face von Karin Kneffel bei Jahn und Jahn in München präsentiert eine Serie an Doppelbildnissen gleichen Formats. Während ein Bild stets das Gesicht einer Frauenfigur zeigt, handelt es sich bei dem jeweiligen Bildpartner um das Antlitz eines Kleinkindes. Kolorit und Erscheinungsbild der Köpfe lassen auf ihren Ursprung in skulpturalen Vorbildern schließen. Die Darstellung von Mutter und Kind hat ihren festen Platz in der christlich religiösen Kunst des Mittelalters bis in die Neuzeit. Unzählige Gemälde und Plastiken wurden über Jahrhunderte hinweg der Gottesmutter mit dem Jesusknaben gewidmet, sodass es sich zweifelsohne um eines der populärsten Motive der westlich geprägten Kunstgeschichte handelt. Doch warum hat sich Kneffel für ihre Mutter-Kind-Bilder ausgerechnet bemalte Holzskulpturen des 15. und 16. Jahrhunderts zum Vorbild genommen?
Die Antwort auf diese Frage liegt zunächst in der Bildhauerei selbst begründet, welche zum einen nicht Kneffels Metier ist, und zum anderen in der kunsthistorischen Tradition als das Medium gilt, welches durch seine Vielansichtigkeit dem Leben vermeintlich näher steht als die eindimensionale Malerei. Nun sind es häufig jene kleinen Marienskulpturen, die einstmals in Klöstern und andernorts der Andacht von Gläubigen und Klerus dienten, denen aufgrund ihrer Materialität und Bestimmung in unseren Augen bisweilen eine eigentümlich »hölzerne« Frömmigkeit und naive Religiosität innewohnt. Letzteres schreckte auch die Künstlerin davon ab, sich früher diesem Thema anzunehmen, bis sie durch aufmerksame Anschauung und Auseinandersetzung das Potential solcher Frauendarstellungen als Identifikationsfiguren erkannte: Ganz auf sich selbst zurückgeworfen, betrübt und liebend zugleich, ahnen und ertragen sie ungerührt mit meist in sich gekehrtem Blick das in der Zukunft liegende unvermeidliche Unheil.
Anders als in den Holzplastiken, sind bei Kneffel Mutter und Kind voneinander getrennt, aber nicht isoliert, denn sie nehmen auf vielfältige Weise kompositorisch und farblich Bezug aufeinander, sodass sie ein untrennbares Duo bilden. Die Köpfe sind stark vergrößert und von eindringlicher Präsenz. Die Künstlerin hat darauf geachtet, die ursprünglichen Proportionen der Mutter-Kind-Figuren zu wahren. So ist das Gesicht der Frau fast immer angeschnitten und passt in das gleiche Bildformat wie das ihres Kindes. Durch die Überführung in Malerei gelingt Kneffel phänomenologisch Bemerkenswertes: In der Betrachtung verschwinden die Bildvorlagen selbst Stück für Stück, die Charakteristika der Statuen treten in den Hintergrund, während die abgebildeten weiblichen Züge eine Verlebendigung erfahren. Sind nicht all diese Skulpturen wiederum auf lebendige Modelle aus Fleisch und Blut zurückzuführen, auf reale Frauen, die von zumeist männlichen Künstlern betrachtet wurden, um ihren Vorstellungen von gottesfürchtiger Weiblichkeit Gestalt zu verleihen? Die Abbildung von Mutterschaft war in diesem Kontext nicht zweckfrei und indem Kneffel die Frauenbildnisse von allem religiösen Zierrat befreit, ihnen ihren eigenen Platz, ihr eigenes Bild neben dem ihres Kindes zuweist, öffnet sie neue Gedankenwelten, schafft andere Bedeutungsebenen und Lesbarkeiten.
Nicht alle Gemälde dieser Serie sind auf Fotos von Holzskulpturen zurückzuführen, welche die Künstlerin über Jahre hinweg in Museen und Kirchen angefertigt hat. Unter die »echten« Madonnen reiht sich eine ein, die auf ein KI-generiertes Vorbild zurückgeht. Ein weiteres Bildpaar zeigt die Schwiegertochter mit Enkelkind. In dieser Konstellation bedingen sich die Bildnisse gegenseitig: In der Malerei durchleben die realen Figuren eine subtile Transformation hin zu einem plastisch geformten Erscheinungsbild, während Skulpturales lebendige Steigerung erfährt.
Kneffel widersetzte sich schon während ihrer Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie gängigen Annahmen, was man zu malen habe und insbesondere dem, was man als Frau besser nicht malen sollte. Solcherlei Vorstellungen waren ihr derart zuwider, dass sie gegen die Verunglimpfung sogenannter fraulicher Themen rebellierte. In den 1980er Jahren begann sie großformatige, realistische Traubenbilder zu malen. Als Obstbilder voller Lebenslust erinnerten sie an Werbeplakate und widersprachen dem männlich dominierten Zeitgeist der damaligen Malerei. Man könnte meinen, in Kneffels Trauben verbinden sich Ideen der Pop-Art mit der Anekdote vom berühmten Kräftemessen zweier antiker griechischer Maler, wie sie uns von Plinius dem Älteren in seiner Naturalis historia überliefert ist: Demzufolge soll Zeuxis von Herakleia seinem Künstlerkollegen Parrhasios im Wettstreit unterlegen gewesen sein. Während Zeuxis Trauben malte, die so echt aussahen, dass sie Vögel anlockten, täuschte Parrhasius seinen Konkurrenten mit einem gemalten Vorhang. Zeuxis tappte in die malerische Falle seines Herausforderers als er verlangte den Vorhang wegzuziehen, um das dahinter liegende Bild zu sehen. Dienen solche literarischen Beschreibungen vom Übertreffen mimetischer Fähigkeiten vor allem dazu ein Höchstmaß an Kunstfertigkeit zu bezeugen, offenbaren sie auch ein ziemlich altes Machtspiel im Rennen um den besten Künstler. Und diesem Treiben begegnet Kneffel durchaus humorvoll, indem sie nicht nur die vermutlich größten meisterhaft gemalten Trauben der Kunstgeschichte schafft, sondern diesen auch in einer Art Revival ihrer eigenen Kunst in Form einer Selbstbesinnung neues Leben einhaucht. Die optimistischen Früchte von damals erhalten in Anbetracht der stillen und gedankenversunkenen Mütter der Diptychen eine doppeldeutige Wendung in dunkler Vorahnung der Vergänglichkeit allen Seins.
In diesem Kontext sind auch die im Untergeschoss der Galerie ausgestellten Fotografien von Stillleben der Künstlerin zu verstehen: Ein Blumenstrauß im Vordergrund – erst in Blüte, dann welk und schließlich vertrocknet – verschmilzt mit einem Blumenbild im Hintergrund. Letzteres weist in prachtvoller Gleichzeitigkeit verschiedene Stadien des Verwelkens auf. Beide Motive verwachsen im Bild und in der Vorstellung der Betrachtenden zu einer neuen Realität, zu einem visuell komplexen Begriff im Kreislauf von Leben und Sterben.
Text: Anka Ziefer
Karin Kneffel, geb. 1957 in Marl, lebt in Düsseldorf. Ausbildung: 1977–1981 Studium der deutschen Literatur und Philosophie an den Universitäten Münster und Duisburg, 1981–1987 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Abschluss als Meisterschülerin bei Gerhard Richter. Von 2000 bis 2008 lehrte sie als Professorin für Malerei an der Hochschule für Künste in Bremen und von 2008 bis 2023 an der Kunstakademie in München. Auszeichnungen und Preise: 1984–1985 Cité Internationale des Arts, Paris; 1991 Karl Schmidt-Rottluff Stipendium; 1994 Lingener Kunstpreis; 1996 Rompreisträgerin, Deutsche Akademie Rom Villa Massimo; 2011 Stiftungspreis der Helmut-Kraft-Stiftung zur Förderung der bildenden Kunst.
Ausgewählte Einzelausstellungen: 2024 MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg; 2024 Museum Franz Gertsch, Burgdorf; 2024 Schönewald Fine Arts, Düsseldorf; 2023 MKK Museum Kurhaus Kleve; 2022 Gagosian Gallery, Rom; 2022 Franz Marc Museum, Kochel am See; 2022 Staatsgalerie Stuttgart; 2022 Max Ernst Museum, Brühl; 2020 Museum Frieder Burda, Baden-Baden; 2019 Kunsthalle Bremen; 2016 Gagosian Gallery, Beverly Hills, CA. (USA); 2015 Kunsthalle Bremerhaven; 2015 Käthe Kollwitz Museum, Köln; 2014 De Arte Contemporáneo, La Coruña; 2014 Barcelona Pavilion, Fundació Mies van der Rohe, Barcelona; 2012 Gagosian Gallery, New York; 2012 Galerie Fred Jahn, München; 2012 Kunsthalle Tübingen; 2009 Haus Esters, Krefeld; 2008 Galerie Friese, Stuttgart, 2006 Ulmer Museum, Ulm.
Werke der Künstlerin befinden sich u.a. in den Sammlungen der Staatsgalerie Stuttgart, des Museums Frieder Burda in Baden-Baden, des Kunstmuseums Bremerhaven, der Unicredit Art Collection und der Mercedes Benz Art Collection.
Ausgewählte Publikationen:
Karin Kneffel. Face of a Woman, Head of a Child, mit Beiträgen v. Valentina Vlašić Julia Voss & Anna Wesle, Ausst.-Kat. Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré-Sammlung, Kleve / Museum Franz Gertsch, Burgdorf, Kleve 2023, 180 S., DE/EN.
Karin Kneffel. Come in, Look out, hg. v. Walter Smerling, mit Beiträgen v. Ulrich Wilmes und Kay Heymer, Ausst.-Kat. MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg 2024, 240 S., DE/EN.
Karin Kneffel – Im Augenblick, hg. v. Achim Sommer, Ausst.-Kat. Max Ernst Museum Brühl, Köln 2022, 191 S., DE/EN.
Karin Kneffel – Im Bild, hg. v. Cathrin Klingsöhr-Leroy, Ausst.-Kat. Franz Marc Museum, Kochel am See, München 2022, 103 S., DE/EN.
Still – Karin Kneffel, mit Beiträgen v. Marion Poschmann & Eefke Kleimann, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen / Museum Frieder Burda, Baden-Baden, München 2019, 224 S., DE/EN.