Opening: Freitag, 6. September 2024, 18–21 Uhr
Libellen sind elegante Flugwesen. Ihre Flügelpaare können sie unabhängig voneinander steuern. Das ermöglicht manchen Arten, scheinbar schwebend in der Luft zu stehen oder sogar rückwärts zu fliegen. Ihre Beute, Mücken oder Fliegen, fangen die geschickten Räuber mit ihren Beinen direkt im Flug. Ihre Existenz beginnen sie als Wasserlarven, die sich durch mehrere Häutungen schließlich in metallisch schillernde Luftwesen verwandeln. Diese Metamorphose macht die sonnenliebenden Insekten zum Symboltier für Anpassungsfähigkeit und Transformation. Ihre Spur reicht zurück bis ins späte Paläozoikum. Riesenlibellen mit einer Flügelspannweite von bis zu 76 Zentimetern prägten die urzeitlichen Sumpf- und Moorwälder. Sie waren die größten Insekten, die jemals auf der Erde lebten. Die Erhabenheit der Libelle kommt aus der Tiefe unvorstellbar großer Zeiträume. „The dragonfly will be the messiah.“ [1] Davon war der japanische Naturphilosoph Masanobu Fukuoka überzeugt. Die Libelle wird der Messias sein.
In der Kunst von Heidi Bucher (1926–1993) war die Libelle ein wiederkehrendes Motiv, wie etwa die acht Collagen mit dem Titel „Der Schlüpfakt der Parkett Libelle“ von 1981 zeigen. Für ihren „Emanzipationsflug“ müsse sich die Libelle „mit Energie und Gewalt abheben und abhäuten (ablarven)“, schrieb Bucher in ihrem undatiert überlieferten Manifest mit dem Titel „Parkettlibelle“. Und weiter: „Die Metamorphose ist im Schlüpfakt abgeschlossen, denn er symbolisiert den Durchbruch. Mit der grünlichen Flüssigkeit dehnt sich neben dem Kopf, Thorax und Beinen auch die Flügel und machen sie transparent. Die ganze Libelle streckt sich dabei. Die Exuvie fällt weg und liegt überall in den Sümpfen umher.“[2] Die Häutung hinterlässt Spuren.
Als „Exuvie“, lateinisch für „Kleidung“, wird bei manchen Tieren die „abgelegte Haut“, also die abgestreifte äußere Körperhülle bezeichnet. Wir Menschen können sprichwörtlich nicht aus unserer Haut. Nur in der Literatur oder den anderen Künsten verwandeln wir uns in Insekten. Aber mit Kleidung und Architekturen hat sich der Mensch im Zuge seiner Evolution zusätzliche, „zweite“ Häute zugelegt. Deshalb schrieb Martin Heidegger: „Mensch sein […] heißt wohnen.“ [3] Wohnen ist Leben. Jedes Umziehen, jedes Umkleiden gleicht auch dem Abstreifen einer Haut. In der Kunst von Heidi Bucher, die durch ihre „Häutungen“ von Räumen berühmt wurde, überschneiden sich verschiedene Kultur- und Naturdiskurse auf poetische und wunderbar hintergründige Weise. Das bestimmt die wachsende Aktualität und Relevanz ihres Werkes für die Kunst der Gegenwart.
„Unsere Erinnerung reicht immer bis an die Grenze des Raumes, den wir wahrgenommen haben“, notierte Bucher. „Alles Erinnerte liegt somit in einer Raumhülle, die als letzte Oberfläche gelten darf.“ [4] Buchers Häutungen erscheinen auch deshalb als nahezu magische Prozeduren, weil im Prozess des Einbalsamierens und Hautabziehens die Zeitdimensionen buchstäblich ineinanderfallen. „Das Gelebte, Vergangene verfängt sich in dem Tuch und bleibt hängen“, schrieb die Künstlerin. „Wir lösen langsam die Kautschukschichten, die Haut, und ziehen das Gestern ins Heute. Die Abbilder sind die Bilder von morgen.“[5] Ortsverbundene Architekturen und ihre Teile, wie das Bodenstück aus dem „Ahnenhaus“ von 1979 verwandeln sich in etwas Mobiles und zirkulieren im Netzwerk der Kunst. Sie lernen zu fliegen. Die umfassende Retrospektive, welche 2021 im Münchner Haus der Kunst gezeigt wurde und anschließend nach Bern und Susch wanderte, belegte diesen Umstand anschaulich.
Zwischen 1944 und 1947 studierte Bucher an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Ihre Lehrer waren die Textilgestalterin Elsi Giauque sowie die beiden ehemaligen Bauhaus-Meister Johannes Itten und Max Bill. Nach dem Studium folgen längere Auslandsaufenthalte in Paris, Hamburg und Südfrankreich. Während eines einjährigen Au-pair-Aufenthalts in London 1948 produziert Bucher erste abstrakte Collagen mit aufgeklebten Textilien, Perlmuttknöpfen und Muschelteilchen. Die Entstehungszeit der hier ausgestellten Portraitzeichnungen Anfang der 1950er fällt mit dem Bezug von Buchers erstem Atelier zusammen. Die Künstlerin, die zu dieser Zeit noch Adelheid Müller hieß, war in die Schweiz zurückgekehrt und hatte in der Zürcher Altstadt einen Arbeitsraum gefunden.[6] Der Sohn Mayo Bucher, der heute gemeinsam mit seinem Bruder Indigo den Nachlass verwaltet, sieht in der Konzentriertheit der Zeichnungen Buchers „egalitäres Wesen“ gespiegelt. „Das Ziel war nicht die Gleichartigkeit, sondern die Gleichwertigkeit aller Portraitierten.“[7] Eindrucksvoll belegen die Blätter zudem die meisterhafte Beherrschung der reduzierten Linie durch die Künstlerin. Bucher konzentrierte sich auf das Wesentliche. Dabei blieb sie auch, als sie sich später den Räumen zuwendete. Diese Freiheit und Unbedingtheit macht ihre Kunst modern und essenziell.
[1] Masonobu Fukuoka,The Dragonfly will be the Messiah, Penguin Green Ideas 17, Penguin Classics Dublin 2021. [2] „Parkettlibelle“, Faksimile, ohne Jahr, abgedruckt in: Haus der Kunst (Hg.): Heidi Bucher. Metamorphosen, Hatje Cantz Berlin, 2021, S.227. [3] Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, in: ders., Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 7 Vorträge und Aufsätze, Klostermann Frankfurt am Main 2000, S.149. [4] „Projektskizze zu Häutung in Teguise“, Faksimile, ohne Jahr, abgedruckt in: Haus der Kunst (Hg.), Heidi Bucher. Metamorphosen, Hatje Cantz Berlin, 2021, S.252-253, hier S.252. [5] Heidi Bucher. Häutungen, Galerie im Weissen Haus, Winterthur 1993. [6] Vgl. Indigo Bucher und Mayo Bucher, „Biografische Notizen zu Heidi Bucher“, in: Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich (Hg.), Heidi Bucher. Mother of Pearl, JRP/Ringier Kunstverlag Zürich, 2004, S.126-127. [7] Gespräch des Autors mit Mayo Bucher, Wallisellen bei Zürich, Juni 2024.
Kito Nedo