Pretend it's true. Die Kunst von Gülbin Ünlü als Erweiterung der Wirklichkeit
Gülbin Ünlü eröffnet mit ihren Farb-, Form- und Figurenkonstellationen ein Feld der Assoziationen mit scheinbar Altbekanntem. Das macht ihre Bilder nahbar und ermöglicht den Betrachtenden, ein Spiel mit den eigenen Erfahrungen und Erwartungen in Gang zu setzen. Wie ihre seit rund fünf Jahren entstehenden Werke haben auch die aktuellen Arbeiten einen komplexen Entstehungsprozess hinter sich. Am Anfang steht das Sichten des möglichen visuellen Arbeitsmaterials, das die Künstlerin gesammelt hat und von dem sie in ihrem Atelier umgeben ist: Familienfotos, Magazin- und andere Medienbilder, Ergebnisse von Recherchen – ein persönliches, auch inneres „Archiv“, in dem Erlebnisse, Eindrücke und Sichtweisen einer Frau des 21. Jahrhunderts mit postmigrantischer Biografie sedimentieren. Bildelemente unterschiedlichster Herkunft werden sodann ausgewählt, im Computer zu einer ersten Komposition zusammengefügt und bearbeitet. „[Nur] Nachahmung ist echte Innovation“, sagt Ünlü zu ihrer Vorgehensweise und meint damit, dass neue Bilder nur aus anderen, bereits vorhandenen und gesehenen Bildern entstehen können. Dies geschieht auch, wenn die Künstlerin neuerdings die künstliche Intelligenz als Sparringpartner ins Spiel bringt, die den Bildentwurf, die digitale Skizze für das jeweilige endgültige Bild mitgestaltet. Ünlü beschreibt diesen Prozess als ein Pingpong, ein Hin und Her der Bearbeitungsvorschläge, in erster Linie unter stilistischen oder kunsthistorischen Kriterien, eine Art Auswählen aus einem öffentlichen Bildarchiv (was die KI letztlich ist) und dies auch als logische Fortführung ihrer bisherigen Arbeit mit dem persönlichen Zettelkasten oder dem Fotoalbum der Familie. Bewusster denn je stellt die Künstlerin durch die Einbeziehung der KI die Frage nach Autor(innen)schaft, stellt deutlicher als bisher deren Auflösung oder Neuformung zur Disposition.
Erst nach einem langen Entwurfsprozess beginnt die Realisierung des haptisch-physischen, eigentlichen Kunstwerks, das sich auf unterschiedlichsten Bildträgern und in allen möglichen Formaten materialisieren kann – als Bild an der Wand, als Performance oder Video, bisweilen auch als Soundpiece, als dreidimensionales Objekt oder auch in einem größeren, installativen Zusammenhang. Für ihre Bilder hat Gülbin Ünlü eine Hybrid-Technik entwickelt, die sowohl Malerei als auch Druck verbindet. Diese spezielle Technik funktioniert für die Künstlerin als eine Art „Gleichmacherin“, wie sie selbst es bezeichnet. Sie ermöglicht es ihr, die Unterschiede der ursprünglichen Bildquellen (Zeichnung, Malerei, Fotografie, Print, analog wie digital) aufzuheben und damit oft als unvereinbar angesehene Inhalte, Gegensätze oder Widersprüche ästhetisch zu amalgamieren. Auf ihre Technik ist Ünlü übrigens auf der Suche nach dem Umgehen des „Strichs“ gekommen, jenes traditionellen, (zumeist) männlich konnotierten Gestus‘ in der Malerei, der für das „Disegno“ eines alle Vorgänge der Bildproduktion kontrollierenden Künstler-Autors steht. Auch Ünlüs Technik ist grundsätzlich konzeptuell, überlässt die Bildentstehung aber auch an manchen Punkten dem Zufall. Und sie überschreitet auf dem Weg zur Manifestation des Kunstwerks gerne künstlerische „No-Go Areas“, wenn beispielsweise Pannesamt-, Spitzen- und andere dekorative Gewebe als Bildträger benutzt werden, wenn Glitzereffekte zum Einsatz kommen oder transparente Stoffe den darunter liegenden Keilrahmen sichtbar machen – und damit auch die Malerei als Konstruktion.
Die Kunst von Gülbin Ünlü ist auf allen Ebenen als eine Fortführung der eigenen Lebensexistenz zu verstehen. „Es geht mir um die Ver-WIRKLICH-ung einer Idee“, sagt die Künstlerin, „darum, aus dem, was mich umgibt und was ich darin bin, wie ich es aufnehme und bezeuge, also darum, aus diesem abstrakten Gefüge und Gefühl etwas Greifbares zu machen. Es geht mir nicht um Herstellung, sondern darum, meiner Sehnsucht nach Transzendenz zu folgen, also mit der Kunst eine neue Wirklichkeit zu schaffen.“
Bernhart Schwenk
Gülbin Ünlü lebt und arbeitet in München, wo sie ab 2012 an der Akademie der Bildenden Künste bei Prof. Markus Oehlen sowie den Gastprofessor*innen John Jordan & Isabelle Fremeaux (Labofii), Simon Starling und Kim Noble Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Performance studierte. 2018 schloss sie mit dem Diplom ab, das mit dem Preis der Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung ausgezeichnet wurde. Seit 2016 hat Ünlü mehrere Publikationen und Musikalben veröffentlicht, zuletzt einen monographischen Katalog, der im Hammann von Mier Verlag erschien. 2021 erhielt sie das Stipendium für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München, 2022 den Förderpreis für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München und 2023 den Bayerischen Kunstförderpreis. Im Oktober 2023 präsentierte Jahn und Jahn Gülbin Ünlü in einer Förderkoje auf der Art Cologne. Ab April 2024 übernimmt Gülbin Ünlü eine Vertetungsprofessur für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste, München.