AN DIE REFORMIERBARKEIT DES KAPITALISMUS ZU GLAUBEN IST EIN IRRWEG.
Harte Arbeit muss sich wieder lohnen. Diesen Spruch bekommt man in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören, von allen Seiten des politischen Spektrums. Selten wird dabei ausformuliert, was harte Arbeit eigentlich sein soll, nur dass schnell klar wird, dass es die Härte ist, die die Qualität der Arbeit ausmacht. Das sich-auf-die-Härte-Berufen ist ein gesellschaftliches Werkzeug, sich derer zu entledigen, die nicht hart arbeiten. Das funktioniert sowohl nach oben wie nach unten. Sind es gerade in Deutschland vor allem Geflohene und Hartz 4 Empfängerinnen, die sich den Zorn der hart-arbeitenden Bevölkerung zuziehen, sind es aber auch „die da oben“, eine Mischung aus „irgendwie Regierung“, Geisteswissenschaftlerinnen und Kulturschaffenden. Scheinbar ist eine Vereinbarkeit von legitimer bzw. credibiler „Arbeit“ und Intellekt-Freundlichkeit in dieser Zeit nicht möglich. Das Hauptwerkzeug, die Menschen zu denunzieren, die sich unter diese Etiketten packen lassen, ist der Vorwurf, nicht richtig, also nicht hart, zu arbeiten. All diesem Zorn, der sich aus der (völlig undefinierten) Gruppe von „hart arbeitenden“ Menschen auf die unterschiedlich Anderen entlädt, muss, so lautet das Credo des Feuilletons, mit Verständnis und Selbstkritik begegnet werden.
Man könnte die Entwicklung der sichtbarsten zeitgenössischen ökonomischen Subjekte vielleicht versuchsweise in zwei Gruppen aufteilen. Die eine ist die der „hart arbeitenden Bevölkerung“ wie oben bereits erwähnt, der andere der sehr amerikanisch geprägte Strang des Entrepreneurships, also des individualistischen Unternehmertums. Hier ist vor allem Youtube eine Plattform, auf der diese Menschen ihren hedonistisch-anarchischen Lifestyle predigen.
Doch bleiben wir vorerst bei der ersten Gruppe, die der „hart arbeitenden Bevölkerung“. Dazu muss gesagt werden, dass diese Gruppe eher ein soziologisches Gerüst zur Erklärung der zweiten ist als eine sich selbst definierende und bewusste Menge an Individuen. Diese Gruppe ist in diesem Versuch also passiv, ihre Normen und Werte werden ihnen aufgrund ihrer potenziellen Nicht-(mehr)-Existenz als Gruppe in den Mund gelegt und wenn sie in Momenten als Stimme in Existenz treten, so weil sie eben diese Werte und Normen reproduzieren.
Die Härte der Arbeit als ihre hauptsächliche Qualität aufzufassen kann als Abwehrreaktion, als Affirmation der eigenen Ausbeutung gedeutet werden: als letztlich einzige Möglichkeit dem Elend zu begegnen. Diese Form der Identitätsstiftung hat sich über die Jahre verselbstständigt. Der solidarische Schulterschluss der Arbeitnehmerinnen ist spätestens seit der Agenda 2010 und seinem Vorläufer, dem Schröder/Blair Papier, in Deutschland zerschlagen, die Bezugsgruppen aufgelöst und die Identitäten zwischen Leiharbeit, Aufstockarbeit, Zeitarbeit und Schichtarbeit zerstreut. Gruppen, die diese Selbstbezeichnung wählen, fordern nicht den Sozialismus und selten mehr demokratische Mitbestimmung, sie wollen in Vorleistung gehen mit Gehorsam, den Ausbeutenden – ihren Arbeitgeberinnen und den strukturellen Institutionen ihrer Gesellschaft gegenüber. Die Erzählung der Härte, die von der erst genannten Gruppe, dem unscharf definierten Post-Proletariat, geteilt wird, ist ein Surrogat geworden für die nicht eingetretene Verbesserung des Lebens und einer unerfüllten protestantischen Hoffnung auf Erlösung durch Arbeit. Die Härte muss reichen, sie ersetzt die monetäre und sinnstiftende Entlohnung. Es ist also ein doppeltes Elend, wenn Martin Schulz im Fernsehen bei Anne Will begeistert sagt: Wir müssen wieder Politik machen für die hart arbeitende Bevölkerung. Es ist eine Absage an finanzielle Verbesserungen für eben diese Gruppe, denn er verspricht damit nur eines: harte Arbeit für alle. Diese Gruppe braucht den Staat. Er ist die Existenzgrundlage ihrer unterstellten Identität als Gruppe der stolzen Ausgebeuteten. Dass die Ausbeutung der Arbeitskraft so wie die moralischen Kodizes des Kapitalismus (Familiengründung und besteuerbare Partnerschaften z.B.) dabei die Form eines unveränderlichen Naturgesetzes angenommen hat, ist der jahrelangen Schaffung von Zwängen und Notwendigkeiten allerspätestens seit dem Sieg der Nato-Staaten gegen die Sowjetunion zu verdanken. Der Sieg der kapitalistischen Arbeit ist alternativlos. Dieser Slogan, einst von Margaret Thatcher geprägt, ist Gedankensediment geworden. Diese Gruppe der Lohnarbeitenden braucht einen starken Staat, einen Staat, der die elende Arbeit an sie und nur an sie verteilt, ein Staat, der keine Konzessionen an die entfesselten Banken und Firmenkonglomerate macht. Klar, wer will das schon, jedoch kommen hier oft auch alte antisemitische Ressentiments wieder zum Tragen: Die Welt, fest im Würgegriff des Kraken. Die Sache mit dem Geld und seiner Produktion war schon immer ein Feld der Metaphysik.
Die zweite Gruppe, von der hier gesprochen werden soll, ist das unternehmerische Selbst, wie Ulrich Bröckling es nennt, oder die zeitgenössischen Entrepreneurinnen, was eher eine Selbstbezeichnung wäre. Die Konjunktur dieser Gruppe aus selbstständig arbeitenden Individuen kann als Resonanz auf die Arbeitsmarktreformen der 90er Jahre verstanden werden und wurde damals schon zaghaft politisch mit der Formel der Ich-AG subventioniert. Im Gegensatz zur ersten Gruppe wird hier das Fehlen von Tarifverträgen, sozialen Sicherungssystemen und das Vorhandensein von unbeschränkten Arbeitszeiten hyperaffirmativ als identitätstiftendes Merkmal umarmt. Die male- wie female-entrepreneurs sind die perfekten Bürgerinnen. Läuft es gut, bilden sie die zahlungskräftige Mittelschicht. Läuft es schlecht, tauchen sie in der Statistik kaum auf. Es gibt keine Gewerkschaft, auf die sie sich berufen können, keine NGOs, die ihre Sache vertreten, keine Innungen, die Lobbyarbeit vor dem Parlament betreiben könnten. Oberflächlich gesehen verachten sie den Staat, berufen sich, wie der Blogger und selbsternannte Perpetual Traveller Christoph Heuermann auf seiner Website staatenlos.ch, sogar auf libertäre Vorbilder der anarchistischen Bewegung. Dass der ökonomische Hedonismus kein wirkliches Projekt des Anarchismus ist und die Hauptströmungen dieser Bewegung immer diverse Varianten des Kommunismus im Sinn hatten, wird von den Sprecher*innen des zeitgenössischen Entrepreneurships nicht beachtet. Hinzu kommt bei Christoph Heuermann die Tatsache, dass sein gesamtes Konzept der Reisefreiheit auf dem Besitz eines deutschen Passes beruht. Diese Gruppe eint keine gemeinsame Narration des geteilten Leids. Sie haben den ökonomischen Darwinismus verinnerlicht. Was ihnen dabei scheinbar nicht bewusst wird, ist, dass sie zwar den Staat mit seinen repressiven Institutionen ablehnen, dies jedoch aus dem Grund, dass sie diese Institutionen nicht mehr brauchen. Sie haben die repressiven Organe des Staatswesens, seine Leitfäden, seine moralischen Kodizes und seinen Leistungsimperativ schon längst subjektiviert, sind selbst Staat geworden. Eine parallele Blüte von Individual-Religion und Spiritualität ist nicht zufällig und fällt als Entwicklung in dieselbe Zeit. Sie sind die perfekte Avantgarde für einen Staat und seinen Versuch, selbst metaphysische Doktrinen von den Institutionen des Staates an die Individuen out-zu-sourcen.
Was beide Gruppen eint, ist die Anerkennung eines Leistungsimperatives, das der Verteilung von Glückspotential und die Ordnung der sozialen Stellungen in ihrer Welt bestimmt, also das Prinzip, nach dem jeder Mensch nach der Menge seiner erbrachten Leistungen Geld, Liebe, Zuwendungen und Tokens bekommt. Das dieses Prinzip fehleranfällig ist, da nicht einmal die Maßeinheit für erbrachte Leistungen (Arbeitszeit, erwirtschaftetes Einkommen, exportierte Tonnen) klar definiert ist, ist ein alter Hut. Beide Gruppen bedienen sich in ihrer Lebensstruktur durchaus unterschiedlicher Werte-Kanons, die jedoch nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Die konservative und heteronormative Familen-Agenda der ersten Gruppe steht nicht wirklich im Konflikt mit der neoliberalen Ausprägung progressiver Lebensentwürfe der zweiten Gruppe, repräsentieren sie doch beide die zwei möglichen Handbewegungen des Körpers der parlamentarischen Demokratie: Konservatismus und Liberalismus. Das Beispiel der Youtuberin Conni Biesalski, die sich in ihrem Reise-und Ratgebervlog ab- und an zu ihren lesbischen Partnerschaften äußert, ist für diese Erzählung recht brauchbar. Auf der einen Seite ist der offene Umgang mit solchen identitätsstiftenden Sachverhalten zwar ein Ergebnis jahrelanger Kämpfe progressiver Kräfte, vor allem außerhalb der Parlamente. Auf der anderen Seite werden hier jedoch sexuelle Orientierung und Privates – wie auch zu sehen bei Youtube-Coach, Entrepreneur, Wein-Kritiker und CEO zweier Marketing Unternehmen: Gary Vaynerchuk – kapitalistisch kolonialisiert und zum bloßen Softskill degradiert bzw. zweckentfremdet. Auch das ist eine Spielart der Subjektivierung des Staates – die Eingliederung des Privaten in das Leistungs-Prinzip. Das die hier genannten Entrepreneurinnen den Staat vermeiden, sogar Tipps geben wie man nie mehr Steuern zahlen muss, wenn man wie sie als digitaler Nomade durch die Welt reist, ist dabei nicht der Punkt. Die wenigsten Besucherinnen ihrer Websites, Leserinnen ihrer Ebooks und Zuhörerinnen ihrer Keynotes werden den vollen Weg der wohnsitzlosen Existenz mitgehen. Diese Entrepreneurinnen stellen eine kleine Avantgarde dar, die für den neoliberalen Staat keinerlei reale Bedrohung darstellt, auch wohl kaum darstellen will - im Gegenteil, sie stärkt und entlastet ihn, indem sich ihre Follower selbst aus seiner Verantwortung entlassen und glauben, ganz für sich selbst verantwortlich zu sein, während sie weiter in der klassischen Lohnarbeit hängen bleiben; in den Großraumbüros, Versicherungen, Agenturen und Dienstleistungsunternehmen. Was sie vor allem gelernt haben, ist die Internalisierung des Staates. Dass nicht die Bedingungen ihrer Lohnarbeit das Problem sind, sondern sie selbst. Das vor allem von Gary Vaynerchuk gepredigte „Never complain!“ findet sich bei Conni Biesalski in der Losung wieder, keine negativen Gedanken zu haben. Das ist vor allem eine Absage an jede Form des gemeinsamen Arbeitskampfes, den man in der Zukunft führen müsste. Vaynerchuk lebt diese Praxis öffentlich vor. Auf seinem Youtube-Kanal kann man ihn in dem von ihm geposteten Video A Dictatorship Around Culture dabei begleiten, wie er in Einzel- und Gruppengesprächen mit den Mitarbeiterinnen seiner Firma VaynerMedia versucht zu ermitteln, wer aus seinem Stab die Person oder die Personengruppe ist, die die Arbeitsmoral durch schlechte Vibes empfindlich stört: „The unhappy minority are dramatically louder than the happy majority; and we have a major case of this at Vayner...“. Die so Gecoachten beschuldigen und bestrafen sich selbst für ihr Elend und die Mühsal, die sie jeden Tag durchzustehen haben. It´s all about your attitude. Die Verbindung zwischen echtem Unternehmertum und gecoachten Lohnabhängigen lässt sich gut am Beispiel eines Imagefilms der Firma Helpling erkennen: ein 2014 gegründetes Unternehmen der Rocket Internet Gruppe, zu denen zum Beispiel auch Zalando gehört. Es bietet das unkomplizierte Buchen von Reinigungskräften über eine Online-Plattform an. Die Leiharbeitskräfte, die in dem kurzen Clip auftauchen, spiegeln Conni Biesalskis Leitsätze. Freiheit im Einteilen der Arbeitszeiten, sein eigener Boss sein... Dass sie wissen, dass sie niemals wirklich ihr eigener Boss sein werden innerhalb der Firmenstrukturen von Helpling, lässt sich in ihren Gesichtern vermuten. Menschen reden so, wenn ihnen jemand die Waffe vorhält. Die freie Wahl der Arbeitszeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei Nicht-Arbeit auch nicht entlohnt wird und wenn einer alleinerziehenden Mutter das Kind zuhause krank wird, auch niemand die Miete bezahlen kann. Diese Menschen sind vertraglich an eine Firma gebunden, die ihnen als selbstständig Gewerbetreibende Putzjobs vermittelt. Sie tragen das Risiko zu 100% selbst. Der kurze Clip ist an Zynismus kaum zu überbieten. Im Grunde sind diese Menschen tatsächlich Unternehmer*innen im Kleinen, in einem Kleinen, das Solidarität nicht zulässt und Vereinzelung und Konkurrenz verstärkt.
Es ist eine Tragödie. Immer weitere Lohnabhängige sind für einen gemeinsamen und notwendigen Arbeitskampf verloren. Es ist ein Widerspruch, den es in nahezu allen Bereichen der sozialen Kämpfe gibt, im Feminismus wie in der schwarzen Bürger*innen-Bewegung, in Teilen der queeren Szene wie in der antirassistischen Arbeit: Die Überaffirmation repressiver Strukturen, sobald sich die Möglichkeit ergibt, Teil der „normalen“, also heteronormativen und weißen, männlich dominierten Gesellschaft zu werden. Dass black ownership, die ökonomische Autonomie der schwarzen Bevölkerung auf einem weiß-dominierten amerikanischen Markt, ein längst überfälliger Meilenstein ist, dass die gleichgeschlechtliche Ehe von vielen seit langem vehement gefordert wurde, dass es wichtig ist, dass Frauen in der Bundeswehr arbeiten können – ja, das leuchtet alles ein. Jeder Mensch, und nicht nur ein weißer Mann, muss das Recht haben, sich idiotisch zu verhalten. Doch ist an die Reformierbarkeit des Kapitalismus zu glauben ist ein Irrweg. Jedes Anwachsen von Wohlstand bei gleichzeitiger Beibehaltung einer kapitalistischen Struktur der Ökonomie manifestiert sich gemäß ebenjener ökonomischen Eigenlogik als Elend in der Peripherie der Zentren. Die Toten am Grund des Mittelmeeres sind auch die Toten unseres Lifestyles. Eine Verbesserung des Elends für Viele wird sich nicht durch Reformen ergeben, sondern durch einen revolutionären Bruch. Eine Aufgabe der Linken, ob im Kulturbereich, in dem auch dieser Text erscheint, oder in den AGs der politischen Arbeit, sollte lauten, gleichermaßen mit Sprache und Handlungen zu verhindern, dass noch mehr Menschen in eine neue innere Emigration verschwinden. Sagen wir ihnen, dass sie nicht selbst ihr Problem sind, sondern die Strukturen, die wir tagtäglich reproduzieren und in denen wir alle nun schon viel zu lange leben.
Tilman Walther